Neoprengeflüster

Ohne ihn wären die meisten Kitesessions in unseren Breitengraden schnell beendet. Er wärmt, schützt und bietet darüber hinaus auch noch Auftrieb. Die Rede ist vom Neoprenanzug, der in unzähligen Varianten, Farben und technischen Ausführungen erhältlich ist. Neoprenexperte Kai Geffken erläutert verständlich die Unterschiede und liefert Tipps, worauf man bei der Neoprenwahl achten sollte.

Neulich auf der Messe habe ich etwas Lustiges beobachtet. Ein Kunde wollte einen Neoprenanzug anprobieren und war von dem kurzen, horizontal verlaufenden Reißverschluss absolut begeistert. Nach einer Weile, die mir bereits auffallend lang erschien, trat er aus der Umkleidekabine und präsentierte sich leicht gequält im Anzug seiner Wahl. Offensichtlich schien er nicht ganz perfekt zu passen, was am Gesichtsausdruck des geneigten Käufers unschwer abzulesen war. Die Knieverstärkungen zwickten in den Kniekehlen und irgendwie sei der Anzug unbequem und wirklich kompliziert anzuziehen, so das erste Resümee. Nur mit eiserner Beherrschung konnte ich mir das Lachen verkneifen. Kaum verwunderlich, dass der Tragekomfort nicht hoch ausfallen konnte, schließlich befand sich der horizontale Reißverschluss nicht vorn auf der Brust – wo er eigentlich hingehört – sondern hinten am Rücken. Wie er in den Anzug hineingekommen ist, war schon schwer vorstellbar. Wie er den Reißverschluss aber auch noch zubekommen hat, ohne sich dabei die Schulter auszukugeln, absolut schleierhaft.

Beim Umstieg von einem Anzug mit Rückenreißverschluss auf ein Frontzipper-Modell sind Ein- und Ausstieg zunächst ungewohnt.

Dass sich auch erfahrene und langjährige Wassersportler mit dem Thema Neoprenanzug nicht annähernd so intensiv auseinandersetzten wie beispielsweise mit der Wahl des Kites oder Boards, erlebe ich immer wieder. Passen soll er und bestenfalls günstig sein. Dass die Nutzungsszenarien, das Revier, aber natürlich auch Aspekte wie die technische Ausstattung markante Unterschiede für ein späteres Wohlempfinden mit dem entsprechenden Modell ausmachen können, wird gern übersehen. Der Neoprenanzug steht bei den meisten Wassersportlern nicht ganz oben auf der Wunschliste. Er ist und bleibt eher ein Mittel zum Zweck, obwohl er mindestens genauso wichtig ist wie das übrige Equipment. Erst durch die Entwicklung des wärmeisolierenden Neoprenanzugs wurde es überhaupt möglich, an kälteren und windigen Tagen länger als 20 Minuten auf dem Board zu bleiben. Dennoch kaufen die meisten Kunden lieber einen neuen Kite als einen neuen Neoprenanzug.

 

Wann aber benötigt man überhaupt einen neuen Anzug? Eine Frage, die mir immer wieder gestellt wird und die pauschal natürlich nur schwer beantwortet werden kann. Als Faustregel gilt: Wenn die Löcher zu groß werden, das Material steif wird oder die zweite Haut schlichtweg nicht mehr passt. Die Industrie hingegen versucht durch die Verwendung stetig neuer Materialien und technischer Aufwertungen die Entscheidung für einen Neukauf positiv zu beeinflussen. Immer elastischer, immer wärmeisolierender und optisch ansprechender haben sich die Neoprenanzüge in den letzten Jahren stark weiterentwickelt. Ob Top oder Flop stellt sich häufig aber erst im Laufe der Saison heraus, wenn die Surfshops die Neoprenanzüge im Laden hängen haben und die Kunden ohne Materialreklamation glücklich durch das Jahr kommen. Dann erst zeigt sich, ob das neue Design und das neue Material auf ganzer Linie als Erfolg verbucht werden können. Um ganz grundlegenden Fehlkäufen vorzubeugen, sollte zu Beginn immer die Frage stehen: Wann und wo soll der Anzug zum Einsatz kommen?

Der Klassiker: Neoprenanzüge mit Rückenreißverschluss ermöglichen einen leichteren Einstieg, da sie über eine größere Öffnung verfügen.

Ein klassisches Fünf-Millimeter-Modell kann bei uns in der Regel von Frühjahr bis Herbst genutzt werden. Dabei sollte man jedoch berücksichtigen, dass fünf Millimeter bei dem einen Vertreter nicht auch gleich den fünf Millimetern – und damit der Wärmeisolierung – eines anderen Anzugs entsprechen müssen. Was draufsteht, steckt leider nicht unbedingt auch immer drin. Hier kann der vergleichende „Grifftest“ schon ausreichend sein, um festzustellen, welcher Anzug dicker und welcher dünner ist. Meist besitzt ein Fünf-Millimeter-Anzug die entsprechende Stärke im Brust- und Rückenbereich, während an den Armen und Beinen dünneres Material zum Einsatz kommt. Solche Abstufungen werden von den Herstellern zum Beispiel wie folgt angegeben: 5/3. Ein Anzug mit dieser Bezeichnung besitzt fünf Millimeter dickes Neopren im Torso- und drei Millimeter dickes Neopren im Arm- und Beinbereich.

Neoprenanzüge mit Frontzipper bieten einen entscheidenden Vorteil: mehr Bewegungsfreiheit im Oberkörperbereich.

Bleibt das Streitthema „Glatthaut versus doppelt kaschiert“, dem die Hersteller im Segment der spezifisch für Kitesurfer ausgelegten Anzüge überwiegend mit Hybridlösungen begegnen. Unumstritten ist Glatthautneopren hinsichtlich der Wärmeisolierung führend. Aufgrund der Oberfläche fällt das durch den Windchill-Effekt (Verdunstungskälte) bedingte Auskühlen geringer aus. Deshalb verwenden viele Marken Glatthautneopren im Brust- und Rückenbereich, verzichten darauf allerdings im Schulter-, Arm- und Beinbereich. Hier kommt dann doppelt kaschiertes Material zum Einsatz, das eine deutlich höhere Elastizität und eine höhere Haltbarkeit besitzt.

 

Anzüge, die auch für den Wintereinsatz konzipiert werden, sind meist sechs Millimeter dick, haben eine integrierte Haube und nicht selten einen Trockenreißverschluss. Ziel ist es hier, das kalte Wasser vom Körper fernzuhalten. In diese Kategorie gehören ebenso die sogenannten Trockenanzüge, die entweder aus Neopren- oder Nylonmaterial gearbeitet werden und mit Latex- oder Neoprenmanschetten ausgestattet sind, damit kein Wasser in den Anzug eindringt. Aufgrund dieser Unterscheidung bezeichnet man die meisten Anzüge ohne Trockenreißverschluss auch als „Semitrockenanzüge“.

Im Gegensatz zu den konventionellen Semitrockenanzügen dringt bei für den Einsatz unter sehr kühlen Gegebenheiten konzipierten Trockenanzügen kein Wasser ein. Sie werden entweder aus Nylonmaterial oder – wie hier am Beispiel des ION Fuse dargestellt – aus Neopren hergestellt.

Ist die erste und wohl wichtigste Entscheidung gefallen, kann die zweite getroffen werden: Front- oder Rückenreißverschluss? Meine Empfehlung: ausprobieren! Beide Systeme bringen Vor- und Nachteile mit sich.
Während durch die größere Öffnung beim Rückenzipper das Einsteigen einfacher gelingt, sind beim Frontzip der Tragekomfort und die Bewegungsfreiheit im Oberkörperbereich in der Regel größer und die Erreichbarkeit des Reißverschlusses ist besser. Die Modelle beider Varianten liegen etwa im Preisbereich von 150 bis 500 Euro. Ob die weitreichenden Preisunterschiede für Anzüge gleicher Stärke wirklich gerechtfertigt sind, erfährst du in der kommenden Kolumne, wo zwei Modelle genauer unter die Lupe genommen werden.

 

Kai Geffken ist seit vielen Jahren als Inhaber und Geschäftsführer eines Sporteinzelhandels mit dem Schwerpunkt Wasser- und Wintersport tätig. Im Laufe der Jahre hat er sich besonders auf Neoprenprodukte aus dem Wassersportbereich spezialisiert. Als Experte auf diesem Gebiet setzt sich der Oldenburger Jahr für Jahr intensiv mit den Neoprenanzügen sämtlicher Marken auseinander und stellt sich dabei immer die Frage, inwiefern neue Designs, Nahtverfahren oder Neoprenmaterialien auch einen tatsächlichen Mehrwert für die Wassersportler und damit seine Kunden bieten.